Nichts Neues in Pullerpü

Eine Beschreibung Wiedensahls in Episoden

Einleitung


Und daher habe ich mich entschlossen, dieses Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, nicht im herkömmlichen Sinne zu beschreiben, denn das ist an anderer Stelle schon häufig getan worden, was jedem einleuchten muss, angesichts der Bedeutung dieses Ortes, obwohl Wiedensahl heutzutage auch nicht mehr im Glanze früherer Zeiten erstrahlt, wie man es ja bedauerlicherweise mittlerweile vielerorts feststellen kann, immer vorausgesetzt, man hat die Augen, es zu sehen oder zu fühlen, da es doch mit recht heißt, dass jeder Geist - und damit auch alles geistvoll geschaffene - dem verborgen ist, der selbst keinen hat, und ich außerdem meine Leser nicht mit langweiligen Fakten belästigen möchte, da dies heute nicht mehr modern ist, sondern stattdessen eine freie, subjektive und zuweilen kreativ verschönerte und daher vielleicht nicht immer in erster Linie dem Wahrheitsgedanken voll ergebende Beschreibung anfertige, weil es mir eben um den Mythos, das große metaphysische Ganze geht.

Das Paradies für Dichter und Denker

Für meinen Vater Heinrich Wilhelm Auhage ist Wilhelm Busch, geboren im schönen Wiedensahl, der größte Dichter, der jemals auf Erden wandelte, gleich nach Goethe, aber noch vor Schiller. Nicht dass mein Vater etwas von Goethe oder Schiller gelesen hätte. Das ist nicht nötig, wenn man ein Wiedensahler, oder auch Wiedensähler, wie es auf Platt-Deutsch heißt, ist. Einem Wiedensahler Urgestein genügt es, Wilhelm Busch zu lesen. Genaugenommen reicht es aus, zu wissen, dass er hier geboren wurde. Lesen tut der alteingesessene Wiedensahler eher die Farbe des Getreides, der Wolken und der Hinterlassenschaften von Großtieren, namentlich Schweinen und Kühen. Man schmückt sich mit dem berühmten (Kennen Sie ihn eigentlich?) Dichter und Denker eher, als das man mit den langwierigen und zuweilen auch anstrengend-langweiligen Texten seine Zeit verschwendet, denn: Kunst ist brotlos. Und man hat keine Zeit. Zumindest darf es nicht so aussehen, als hätte man Zeit. Meine gestrenge Großmutter ging Zeit ihres Lebens niemals spazieren, aus Furcht, andere Dorfbewohner könnten denken, sie hätte nichts zu tun. Und das war sozusagen der schlimmste aller vorstellbaren Fälle. Das ist aus heutiger Sicht verwunderlich, denn als Jahrgang 1904 hatte sie ein Spektrum von Schrecklichkeiten und Wandlungen der Welt erlebt, da kann man nur staunen! Aber Weltkriege hin, Weltkriege her. Kaiserreich, Hitler, Hiroshima, Adenauer, Plumsklo, Auto, Digitalisierung: Das einzige was man fürchtet, ist, was der Nachbar von einem denkt! Das eigene Reden über andere Dorfbewohner lässt einen nämlich darauf schließen, was die anderen so über einen selbst reden. Ich, damit meine ich den Autor dieses Textes, habe keine Ahnung, was in Wiedensahl an Tischen anderer Familien gesprochen wurde. Wenn das aber nur ein Viertel so gehässig und lästerlich war wie bei uns früher, dann sind die Sorgen meiner Oma absolut begründet gewesen und die mögliche atomare Vernichtung war mehr als zweitrangig.

Sind Wiedensahler Demokraten?

Für meinen Vater Heinrich Wilhelm Auhage, geboren im schönen Wiedensahl (Dieser Anfang gefällt mir so gut. Darüberhinaus ehrt es meinen Vater.), spielen Geschichte und Politik eine wichtige Rolle. Natürlich nicht im aktiven Sinne - dafür ist keine Zeit - ,sondern wenn es darum geht, die heutige Politik zu verunglimpfen und in der Bedeutsamkeit des "Frühers" zu schwelgen. Ich habe meinen Vater einmal gefragt, ob die alten Wiedensahler eigentlich Demokraten seien. Er antwortete: "Eigentlich nicht so sehr." Daraufhin fragte ich, wie denn die Wiedensähler zum dritten Reich standen? (Adolf ist ein häufiger Name in Wiedensahl.) Antwort: "Nein! Ganz und gar nicht. Alle sind im Widerstand gewesen!" Da fragte ich: Dann waren die Wiedensahler also Anhänger der Deutschen Kaiser? Seine Brust schwellte voller Stolz an: "Nein!! Die Wiedensahler sind ursprünglich Anhänger der Hannoverschen Könige!"
Aus dieser Antwort dürfen Sie gern auf die Progressivität der Wiedensahler schließen.
Wiedensahl ist heute ein wenig bedeutender Flecken. Das täuscht schnell darüber hinweg, welch phänomenale Rolle es in der Vergangenheit gespielt hat. Denn als im Jahre 1714 der Hannoversche König Georg der Erste den Britischen Thron bestieg, wurde durch diese Personalunion das Weltreich Großbritannien dem Hannoverschen Kurfürstentum, dem auch Wiedensahl angehörte, einverleibt. Vom Großen Nordischen Krieg über die Gründung der USA sowie Napoleons Eskapaden bis hin zur Thronbesteigung von Queen Victoria 1837 (Sie regierte immerhin bis 1901. 1904 wurde dann meine Oma geboren.) stand das Weltgeschehen quasi im Schatten Wiedensahls. Diese Tatsache ist zwar unter Historikern nicht unumstritten, aber das ist ja lediglich eine Frage der Perspektive.

Die Geographie Wiedensahls

Julius Caesar war ein Mann von großem Weitblick und Intuition. Ich sehe den Anfang seines Buches "De Bello Gallico" - Vom Gallischen Krieg - im Zusammenhang schicksalhafter Weltgeschichte, sozusagen vorwegnehmend, in direktem Bezug auf Wiedensahl. Er schreibt:

"Gallia est omnis divisa in partes tres."

"Gallien in seiner Gesamtheit ist in drei Teile aufgeteilt."

Tatsächlich ist Wiedensahl auch in drei Hauptteile gegliedert, welche sich aber nur dem Eingeweihten erschließen:

Alles ist an einer Straße gelegen, die passender Weise Hauptstraße heißt. Die Grenzen sind nicht bezeichnet und die Übergänge fließend. Das Zugehörigkeitsgefühl zu "seinem" Dorfteil ist zwar nicht in allen Teilen gleich, aber insgesamt stark ausgeprägt.
Schon manch einer hat behauptet, Wiedensahl läge nur an einer einzigen Straße. (Böse Menschen sagen sogar, Wiedensahl wäre gar kein Dorf, sondern lediglich eine Straße!) Aber das stimmt nicht! Neben der "Hespe", einer Straße, die von der Hauptstraße aus zehn Kilometer in Richtung Ausland führt und mit sittsamen Mitteldörflern bewohnt ist (aber nicht auf voller Länge), möchte ich hier gerne das Wehmland erwähnen:
Es handelt sich dabei nicht, wie der Name vermuten ließe, um ein ganzes Land, sondern um eine eher kurze Straße. Das an sich ist schon besonders, denn in Wiedensahl kennt man eigentlich nur lange Straßen. Darüber hinaus habe ich dort in meiner Kindheit immer ein bizarres Flair verspürt, denn dort wohnten Zugezogene. Also Menschen, die keine familiäre Beziehung zu anderen Wiedensahlern hatten und einfach so hingezogen waren. Das Warum hatte sich mir damals nicht erschlossen. Sie haben also dort neu gebaut, dort wo es vorher keine Häuser, sondern Felder gab. Und die Häuser waren sehr kurios! Denn es waren keine Bauernhäuser wie im übrigen Wiedensahl, sondern einfach nur Häuser, ohne Bauern. Keine Bauern, keine Traktoren, nicht einmal Scheunen. Nur Häuser mit kleinen Gärten, die für eine landwirtschaftliche Bebauung zu klein waren und auch nicht auf diese übliche Weise genutzt wurden. Die Nutzung schien vor allem darin zu bestehen, dass der Rasen gemäht wurde, wobei das Gras nicht einmal verfüttert oder für den Winter eingelagert wurde. Ich denke, alle sind sich darüber einig, dass das bizarr ist!
Daneben gibt es noch einige verstreute Höfe mit traditionell platt-deutschen Namen, die sich nicht in Schriftsprache darstellen lassen. Diese Höfe haben den Vorzug, alleine zu liegen, so dass sich die dort Lebenden der starken sozialen Kontrolle des Dorfes entziehen können. Vielleicht wurden sie aber auch dorthin verbannt!? Alle, die ich dazu befragen wollte, sind kurz vorher unter misteriösen Umständen eines meist grausamen Todes gestorben.

Völkerwanderungen

Von allen Wiedensahlern haben die Neernenner den größten Patriotismus. Sie haben ihre ganz eigene Kultur mit eigenen Riten und Festen, wie zum Beispiel dem Grünkohl-Wettessen. (Mir als Mitteldörfler sind die Regeln nicht bekannt, aber was kann schon dahinterstecken.) Im Allgemeinen sehen sie sich als den leidenschaftlichen Kern Wiedensahls, als Elite ähnlich wie Bayern innerhalb Deutschlands, England innerhalb Großbritanniens oder auch Deutschland innerhalb der EU. Bisher gab es zwar keine Unabhängigkeitsbestrebungen, aber Bayern fühlt sich im Bunde mit den anderen Bundesländern zwar überlegen; ohne sie jedoch würde seine Mickrigkeit nur allzu deutlich zu Tage treten. Also bleibt Bayern in Deutschland, Deutschland in der Eu und Neernenne in der Wiedensahler Dorfgemeinschaft. Allerdings macht die Tatsache, dass Neernenne sogar teilweise einen eigenen Fussballclub, den 1.FC Neernenne, hat, deutlich, wie hoch das Streben nach Status ist!
Der Neernenner fühlt sich also den anderen Dorfbewohnern überlegen. Meine persönliche Einschätzung ist eher, dass auf Grund der Topographie - Neernenne ist einige Meter tiefer gelegen als der Rest - die faulen Mitteldörfler zwar den Weg runter ins Tal fanden, aber den Rückweg bergauf schlichtweg nicht geschafft haben. Daher sind, soweit es sich nicht vermengt hat, im Mitteldorf die Sportlichen angesiedelt und in Neernenne... na ja! Heutzutage ist der Verkehr ja meist automatisiert(Meint den Straßenverkehr.).
Und dann gibt es noch Obernende. Dort leben Menschen ohne nennenswerte Charaktereigenschaften, weder negativ, noch positiv, und doch unverzichtbarer Teil des Dorfes. Es ist wie beim Wettlauf: Wenn nicht auch einige Mittelmäßige mitlaufen, können sich weder die Schnellen davon abheben, noch kann sich der Zuschauer genüsslich an der Unfähigkeit der Langsamen ergötzen. Dieser gleichmäßig verteilte Unterschied an Qualitätsmerkmalen macht den himmlischen Frieden, die Gelassenheit und den Charme des Dorfes aus, den die zahlreichen Touristen so schätzen!

Das Wiedensahl der Moderne

Der technische Fortschritt revolutioniert die ganze Welt und hat natürlich auch in Wiedensahl längst Einzug gehalten. Es gibt neue Kommunikationswege, neue Fortbewegungsmittel, Landmaschinen und auch soziale Umwälzungen aller Art. Die Industrialisierung manifestiert sich in den großen Industriezentren Wiedensahls: Zum Einen im Süden, wo auf dem Gelände der Firma Kiene die Schwerindustrie regiert, und zum Anderen im Norden das dem Silicon Valley, Kalifornien, USA nicht unähnliche HighTech- und Inovationszentrum rund um den Schierenbrink (eine Verlängerung der Hauptstraße in gerader Linie). Im Mitteldorf findet man heute leider keine Industrie mehr, da das Lohnniveau zu hoch ist und so die Firmen nach Neernenne und Obernende abgewandert sind. Wer von den Mitteldörflern diese Umzüge mitgemacht hat, muss, wie andernorts üblich, längere Fahrzeiten von bis zu 2 Minuten in Kauf nehmen. Aber nicht jedermann wollte sich dazu drängen lassen, während des Berufsverkehrs den halben Tag auf der Hauptstraße im Stau zu stehen. Daher haben sich viele Mitteldörfler der Kultur, Religion oder Gastronomie verschrieben:
Im Dorfzentrum steht eine kleine Kirche samt Friedhof. Es gibt zahlreiche Cafés wie das Dörp Kaffee oder den Wilhelm-Busch-Keller. Viele kulinarische Neuerungen wie Pizza und Nudeln (traditionell isst man in Wiedensahl nur Kartoffeln und Grünkohl, aber der Wiedensahler ist unheimlich offen für Neues!) machen einen Besuch des Wiedensahler Zentrums zu einem rasanten Abenteuer für den Gaumen und die Seele. Wer es ruhiger mag, kann sich die Zeit im Heimatmuseum vertreiben. Der Friedhof bietet Entspannungsmöglichkeiten für Jung und Alt, aktive und passive Mitglieder, ober- oder unterirdische Gartenfreunde.
Leider hat auch in Wiedensahl der Kapitalismus seine unbarherzigen Seiten: Legale, transparente und damit besteuerbare Finanzströme herrschen nur im Zentrum zwischen der Volksbank entlang der Hauptstraße bis hin zur Sparkasse (ungefähr 100m). Darüber hinaus hat der Sozialstaat, an deren Spitze in Wiedensahl der Pfarrer steht, abgesehen von den Kollekten kaum Einnahmemöglichkeiten. Die Folge: Auf der einen Seite Verarmung und Verwahrlosung; Menschen, die sich gezwungen sehen, Musik zu studieren und auszuwandern oder in der Feuerwehr Theater spielen müssen oder sich im schlimmsten Falle sogar auf dem berüchtigten Wiedensahler Heiratsmarkt bei jeder X-beliebigen Partnervermittlung anbiedern müssen, in der Hoffnung, irgendeinen ungehobelten Reichen aus Hannover zu ehelichen. Das sind Alpträume, die jedem brav-konservativen Wiedensahler den gereiften Schweiß auf die ungekochten Bratfritten treiben!
Auf der anderen Seite stehen Reichtum und ein Luxus, dessen Sinnhaftigkeit zweifelhaft ist, da er die Menschen offensichtlich korrumpiert: Manche Familien haben Traktor und Elektrizität oder gar ein eigenes Zimmer für jedes Kind. Welche Auswirkungen das auf die Psyche dieser Menschen hat, weiß nur der Allmächtige allein! Doch im Moment haben sich noch nicht alle wahnsinnigen Erfindungen durchgesetzt: Selbst die Reichsten und Fortschrittlichsten haben keinen Sinn gesehen in Spülklosett, Badewanne oder fließend warmen Wasser. Und als Neernenne, durch dessen Gossen auf Grund der tieferen Lage die edlen Geschäfte der Mitteldörfler fließen, den Vorstoß wagte und den Bau einer Kanalisation vorschlug, wurde das vom zurecht verständnislosen Rest des Dorfes beim jährlichen Thing abgelehnt.

Der Ältestenrat beim jährlichen Thing während der heiligen Feuerprobe... ... und beim martialischen "Kriegergesang des fresslustigen Wiedensahlers". Moderne Erfindungen wie das Rad erfreuen auch die Kleinsten.
(Quelle: "Technik in Wiedensahl: Eine Erfolgsgeschichte!" von Heinrich von der Vögelweiden)
Im Vordergrund das klassische Wiedensahler Fortbewegungsmittel. Dahinter die atemberaubende Shilouette eines halbautomatischen Zweirades. Eine Weiterentwicklung, die allerdings dem Reiter einiges an Können und Übung abverlangt. Der Luxus zeigt seine teuflische Fratze: Ein separates Kinderzimmer mit opulentem Spielzeug!(Quelle: Diabolus) Verarmt, ausgestoßen, gescheitert!: Ein Wiedensahler Exilant.
(Quelle: "Wiedensahler im Exil"; Exilanten-Verein Marrekko; erschienen im C.A.Weck-Verschlag)

Kreuzfahrt

Mein Bruder liegt quer in seinem Auto. "Ob ich das noch schaffe; in meinem Alter?" Er stöhnt. Er erreicht das Stoffdach, bedient einen Hebel. Noch ein kräftiger Zug und das Dach seines Cabrios schließt sich. Er steigt aus und wir ziehen unsere Masken an. Ich betrachte das, was für mich schon immer wie ein Kreuzfahrtschiff ausgesehen hat. Es ist hoch und breit. Und oben gibt es einen Teil, der wirkt wie die Brücke eines dieser riesigen Schiffe, die über unsere Meere fahren wie Festungsanlagen. An der Spitze sind Antennen angebracht, denn Fernsehen spielt immer eine große Rolle, zumindest noch für die Generationen, die zum "Schiff" gebracht werden, um ...? Ja warum??? Eigentlich um allmählich zu sterben. Die letzte große Fahrt eines Menschen in unserer reichen Welt. Und die einzige Kreuzfahrt, die nun der Mensch, den wir lieben und jetzt schon vermissen, je in Angriff genommen hat. Denn Kreuzfahrten sind teuer. Und mein Vater war stets sparsam. Früher musste er es sein, denn er hatte eine große Familie mit fünf Kindern zu ernähren. Später, im letzten Viertel ihres Lebens, habe ich mich immer gewundert, wo das Geld, dass unsere Eltern uns noch gelegentlich gaben, eigentlich herkommen konnte, bei der knappen Rente? Sie haben sich alles vom Munde abgespart: Für uns.
Am Eingang müssen wir die coronaüblichen schriftlichen Formalitäten erledigen. Wir, mein Bruder und ich, witzeln: "Haben wir jetzt ne Waschmaschine gekauft?" Mein Bruder ist schon Rentner. Ich antworte: "Nö, du hast gerade einen Pflegevertrag unterschrieben, dich entmündigt und darfst dieses Altenheim nie wieder verlassen. Ich erbe dein Cabrio." Wir gehen durch die Korridore. Maskierte Pflegerinnen begegnen uns; eine begleitet uns auch. "Ich gehe erstmal rein und schaue, ob alles in Ordnung ist" sagt sie mit russischen Akzent. Sie will uns schlimme Anblicke ersparen. Wahrscheinlich weiß man nie, was man antrifft, wenn man im Altenheim ein Zimmer betritt. Ich frage mich, was sie wohl schon so alles dabei erlebt hat. Dann dürfen wir hinein.
Uns ist gleich klar, wie es aussieht: Mein Vater, der vor einigen Tagen noch mit uns Eis gegessen hat und sich beschwerte, dass das alkoholfreie Bier nicht schmeckt, ist vom Tod gezeichnet: Die Wangen hohl, der Schädel zeichnet sich deutlich unter der dünnen, blassen Haut ab, die Adlernase ragt spitz in die Luft und seine Augen sind geschlossen. Er schläft, wacht aber auf, als die Pflegerin uns einige Hinweise gibt, bevor sie das Zimmer verlässt. Wir stehen zu beiden Seiten des Bettes. Mein Vater hat die Augen geöffnet und schafft es, uns anzusehen. Als er uns erkennt, versucht er sofort Kontakt aufzunehmen und zu sprechen. Nichts ist zu verstehen. Nur Genuschel ist von der einst so forschen, vorlauten Stimme übrig. Ob er etwas bestimmtes sagen will und es nicht kann oder ob der Verstand schon zu schwach ist für Inhalte, ist nicht festzustellen. Das finde ich furchtbar!: Der Gedanke, dass er versucht, uns etwas mitzuteilen, etwas, was er schon immer nochmal sagen wollte, etwas ganz Wichtiges, nie wieder Nachholbares, und wir können ihn nicht verstehen und das weiß er vielleicht sogar. Wie groß müsste dann seine Enttäuschung sein? Es ist zum Verzweifeln! Wir hören zu, reden mit ihm und hoffen, dass er einiges davon versteht. Und wir halten seine Hände; noch kann er etwas zupacken, er, der im hohen Alter noch im Akkord Holz wie Butter zerhackt hat, ganz hat er noch nicht aufgegeben. Ich erzähle über Sommer und Getreide, da scheint er wieder einzuschlafen. Er spricht im Delirium, scheint zu träumen und fährt mit seiner Hand schwach durch die Luft, als wollte er Fliegen verjagen. So gern würde ich wissen, was er träumt! So viel erlebtes geht dahin und wird vergessen! Eine Weile sehen wir noch zu, dann gehen wir. Denn wir haben für diese Kreuzfahrt noch nicht angeheuert. Er muss alleine fahren. Wie das für so einen lebensfrohen, zugewandten Menschen wohl ist? Ich denke: Viel zu einsam.

Am Donnerstag, den 30. Juli 2020, verstarb unser Vater im Alter von 89 Jahren. Mein Bruder sagt: "Ich weiß jetzt, was er uns mitteilen wollten: Er hat sich von uns verabschiedet!"
Auf Wiedersehen, Papa!

Der Schwarze Kanal

Von den innerdörflichen Attraktionen habe ich bereits berichtet. Aber es gibt ja nicht nur Wiedensahl, jedenfalls nicht ausschließlich. Ich möchte auch nicht von den schnöden, Wiedensahl umgebenden Städten wie Minden, Hannover oder Rio reden, um den Leser nicht zu langweilen, denn dieser hat sich ja bewusst für ein spannendes Thema entschieden.

Mittellandkanal

Geschichtlich ist es ja oft so, dass an wichtigen Verkehrwegen auch wichtige Ortschaften entstehen. Im Falle von Wiedensahl war das anders, denn Wiedensahl war schon da, als der Mittellandkanal gebuddelt wurde. Über die Enstehungsgeschichte dieses "Achten Weltwunders" wurde viel spekuliert. Doch wie man heute weiß, begann alles ganz anders und damals hätte niemand für möglich gehalten, welche Dimensionen das Projekt annehmen würde.

An sich ist der Wiedensahler nicht besonders reisefreudig. Wozu in die Ferne schweifen, wenn man doch offentsichtlich das Paradies direkt vor der Haustür hat. Trotzdem begibt man sich manchmal auf Reisen, um für sich selbst genau das klarzustellen: Nämlich dass es zu Hause am schönsten ist. Und so machten sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert einige abenteuerlustige und verwegene Neernenner auf, zu erkunden, was außerhalb des heimischen Gestades lag. Einige Durchreisende hatten wohl von einem großen Wasser berichtet; kein Fluß, wie die Ils, auch kein See wie der Feuerlöschteich gegenüber der Kirche, der sogenannte Sahl, der zusammen mit seinen Weidenbäumen Wiedensahl den Namen gegeben hat; nein, ein Wasser ungeheuren Ausmaßes, wo man das andere Ufer nicht sehen kann, das von riesigen Schiffen befahren wird und voller gefährlicher Seemonster sei, die sich in großen Tiefen - mitunter sogar über 2m - versteckten. Kein Mensch könne dort stehen, so die Durchreisenden. Der sichere Tod würde einen erwarten, fiele man dort hinein, es sei denn, man wäre eingeweiht in die geheimsvolle Kunst! Welche Kunst? fragte man die Reisenden. Ackerbau oder Viehzucht? Nein, man nennt es Schwimmen. Durch scheinbar willkürliches bewegen von Armen und Beinen könne man sich über Wasser halten. "So wie der Schaum auf dem See Genezareth, oder Jesus, als er über Schaumburger Bier lief?" fragten die Wiedensahler, die auch in biblischen Dingen sehr bewandert sind. "Genauso, aber eleganter", entgegneten die Reisenden. Da machten sich die mutigsten oder am leichtesten zu entbehrenden auf, um dieses Wasser aufzusuchen und die Kunst zu lernen. Endlos ging es über Felder und Äcker, Hügel und Höhen, Tiefen und Täler, bis sie schließlich nach unzähligen Abenteuern und mehreren Stunden das Meer erblickten!

Die Menschen aus Neernenne sind nicht unbedingt für ihre Lernfähigkeit berühmt. Es dauerte lange, ehe aus den ersten zögerlichen Schritten am flachen Ufer des Steinhuder Meeres die ersten erkennbaren Schwimmansätze wurden. Nach einigen Jahren - ihre Höfe waren zwischenzeitlich schon an ihre Kinder weitervererbt worden, kehrten sie jedoch zurück und erstatteten Bericht. Was folgte war ein regelrechter Boom des auch-Schwimmen-lernen-wollens. Zwar sind die Teiche in Wiedensahl alle sehr flach, dennoch ging die Bevölkerungsdichte Wiedensahls in jenen Tagen deutlich zurück. Das Problem war nun folgendes:
Der Wiedensahler ist es gewohnt, lange in dieselbe Richtung zu gehen, bevor er wenden muss. Von dieser Lebensphilosophie nicht ablassen wollend, suchte man nun auch für die Schwimmtätigkeit ein sehr langes Gewässer. Das gab es aber nirgends in der Gegend! Kurzerhand nahm man sich also einige Schaufeln und begann zu graben. Schlau und umsichtig, um die eigenen Besitztümer nicht zu schmälern, suchte man dafür ein ebenes Gelände auf dem Ackerland der benachbarten Niedernwöhrener. Zum Glück sind diese im Geiste so unfassbar träge, dass sie sich bis heute immer wieder aufs Neue darüber wundern, wenn sie beim Düngen ihrer Felder mit Schweinemist plötzlich vor dem Mittellandkanal stehen.
Der Rest der Geschichte ist langweilig und schnell erzählt: Kaiser Wilhelm, der im nahe gelegenen Bad Rehburg gerne zur Kur fuhr, wurde aufmerksam, erweiterte das mittlerweile 12 km lange Wiedensahler Schwimmbad um 380 weitere und öffnete es für den Güterschiffsverkehr.
Die beträchtliche Summe, welche die Wiedensahler erhielten, wurde sofort in Alkohol angelegt. Der Verlust des Bades wog nicht schwer, denn mittlerweile hatten die Dorfbewohner den Fussball für sich entdeckt. Außerdem war der Sommer jenes Jahres besonders schön und der Grünkohl hing knackig-rot-golden an den sich biegenden Ästen der Bäume.
So herrlich ist das Leben auf dem Lande!